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13. November bis 17. Dezember 2006

Der Mistral pfeift mit bis zu 75 km/h die Rhône runter. Da zieht man sich am besten ins Schiff zurück, liest, backt Brot, legt Oliven ein und, und … Als der Wind am nächsten Morgen eingeschlafen ist, schippern wir weiter auf der breiten Rhône. Die Berge treten zurück, hässliche Industriebauten säumen die Ufer, reichlich Schwemmgut treibt auf dem Wasser. Dem weichen wir möglichst aus, ein dicker Ast in der Schraube kann ihr Ende sein. Anleger sind Mangelware, man muss nehmen, was kommt. Bei Vallabrèques können wir an einem langen Steg neben einem Lastkahn festmachen. Jemand kommt herunter, will beim Anlegen helfen und fragt, ob wir Wasser brauchen. Das Tor zur Steganlage ist verschlossen, er zeigt uns, wie man es überlisten kann um raus, aber vor allem auch wieder rein zu kommen. Einem Abstecher nach Vallabrègues steht also nichts im Wege. Große Schatten spendende Platanen, kleine Gassen, viel südlicher Charme - und frisches Baguette bekommen wir auch noch. Am nächsten Tag geht’s durch die letzte der großen Rhône-Schleusen, dann biegen wir ein in die Petit Rhône. Von der haben uns ein paar Leute vorgeschwärmt, aber unsere Begeisterung hält sich in Grenzen. An beiden Seiten geht das Ufer steil hoch, oben stehen Büsche und Bäume und ihr buntes Laub spiegelt sich im Wasser. Doch übers Land gucken kann man nicht. Wir bewegen uns auf dem offiziellen Schifffahrtsweg, begegnen aber keinem Berufsschiff. Nach 20 km geht der Hauptschifffahrtsweg ab in den Kanal du Rhône à Sète. Berufsschiffe dürfen nicht weiter auf der Petit Rhône fahren, wir schon - und nur noch 39 km trennen uns vom Mittelmeer. Der Himmel verdüstert sich, gewaltige Wolken werden vom Wind vorbei getrieben. Der kommt jetzt aus Süd-Ost, nun sind wir froh über die hohe Böschung, die uns gut schützt. Nach 2 km taucht ein fester Steg auf, gerade rechtzeitig vor dem ersten Regenschauer. Die Dalben, an denen wir festmachen, ragen 2 ½ m aus dem Wasser und ein fester Steg mit Treppe führt an Land. Am nächsten Tag lacht die Sonne wieder, uns treibt nichts weiter, trotz starkem Wind raffen wir uns auf zu einer Radtour nach St. Gilles. Mal sehen, ob es sich lohnt mit dem Schiff hinzufahren. Das Städtchen liegt am Canal du Rhône à Sète und hat einen größeren Hafen. 8 km strampeln wir durch die flache Camarque, vorbei an Reisfeldern (den baut man hier an, um das Versalzen der Böden zu verhindern) und hohem Schilf, das die Straße säumt und sich im Wind wiegt. St. Gilles erreichen wir kurz vor 12 h und erleben gerade noch das Ende eines lebhaften Marktes. Der Hafen ist voll, keine Chance mit Moses hier anzulegen. St. Gilles hat eine schöne Kirche mit bedeutenden Werken romanischer Plastik (ein Stern im Baedecker), drum herum die engen Gassen des Südens, aber auch den leichten Charme des Verfalls. Die Kirche steht ausnahmsweise nicht auf dem höchsten Punkt, sondern die „Mairie“, das Rathaus. Von oben hat man einen weiten Blick, u.a. auf eine hässliche Rafinerie. Außerdem bläst uns der Wind fast von den Rädern, so dass wir den Heimweg einschlagen und uns gegen den Wind zurück zum Schiff kämpfen.
Tag's drauf regnet es wieder. Wir bleiben am Steg, schreiben am Bericht, Per aktualisiert die „Bildergalerie“ auf unserer Homepage. Am frühen Abend liegt „Moses“ plötzlich schräg – merkwürdig. Per legt die Leine ein wenig am Dalben hinauf und das Schiff richtet sich wieder auf. Aber seltsam, bald liegt „Moses“ wieder schräg. Zwischen Wasser und Steg war bei unserer Ankunft ein halben Meter Platz, jetzt ist es knapp unter dem Steg. Felix wuselt draußen herum, als wir ihn rufen, kommt er an Bord gerannt, schaut sich unsicher um, und eine halbe Stunde später ist von dem Steg nichts mehr zu sehen. Es wird uns unheimlich. Das Wasser ist schweigsam, aber hinterhältig steigt es und steigt. Als es etwa einen Meter höher ist, befestigen wir zusätzliche Leinen an den Pollern auf dem Kopf der Dalben. Als auch die Köpfe der Poller unter Wasser sind und wir die Leinen nicht mehr lösen könnten – es sei denn, wir kappen sie – werden wir unruhig. Ein grandioser Sternenhimmel wölbt sich über uns, neben uns strömt die schlammige Brühe der Petit Rhône mit inzwischen 6 km/h vorbei, garniert mit Schilf, Ästen und ganzen Baumstämmen. Wenn die Leinen nicht halten, wird Moses von der Strömung mitgerissen, hinaus ins Dunkel, dem Mittelmeer zu. Wir fühlen uns hilflos. Per richtet sich sein Lager im Salon ein, legt sich angezogen unter eine Decke und stellt den Kurzzeitwecker auf jeweils 60 Minuten. Ich lege mich halb angezogen ins Bett, bleibe schlaflos, warte auf das Signal des Weckers. So stürzen wir in dieser Nacht immer wieder an Deck - das Wasser steigt und steigt. Die Nacht scheint nicht enden zu wollen, schlaflos und ängstlich warte ich auf das Tageslicht. Als es endlich dämmert, sind von den 14 Stufen, die zum Steg hinunter führen, noch 5 zu sehen, und das Wasser steigt weiter. Doch die Leinen haben gehalten. Von Bord gehen können wir nicht, aber wir haben Verpflegung für mehrere Tage an Bord, wir werden warten. 3 Meter war das Wasser in nur einer Nacht gestiegen. Zum Glück beginnt schon am Mittag der Wasserstand zu fallen, wir kommen noch nicht von Bord, aber wir erreichen wieder die Leinen.
Der nächste Tag ist Sonntag. Angler kommen zum Steg, einer von ihnen ist 6 Jahre in Berlin Mitte zur Schule gegangen. Ihn fragen wir nach Hochwasser-Warnungen. Nein, - es gibt keine, bestätigt er. Der Wasserstand ist wieder normal, und gemeinsam mit den Anglern befreien wir den Steg vom Schlamm. (Auf den Bildern seht Ihr den Steg bei Hochwasser und bei normalem Wasserstand.) An den Büschen erkennt man noch den grauen Schlamm des Hochwassers.
Blauer Himmel und Sonne begleiten uns bei der Weiterfahrt. Nach 14 km gibt es einen Schwimmsteg   beim Chateau d’Avignon. Angst vor dem Hochwasser müssen wir hier nicht haben, aber nachts wird es doch beklemmend, als neben uns die Käuzchen ihre unheimlichen Rufe durch die Nacht schicken. Am nächsten Vormittag können wir immer häufiger über das flache Land schauen. Beim Anblick der ersten weißen Camargue Pferde (eingezäunt auf der Weide), greifen wir begeistert zum Fotoapparat. Auch Kuhreiher und Seidenreiher mit ihren gelben Füßen versuchen wir mit der Kamera einzufangen. Ein paar Kilometer weiter der nächste Pontonanleger. Er ist gerade lang genug für Moses und trägt ein herrlich kitschiges Bild mit reitenden Männern auf weißen Pferden, die schwarze Stiere treiben, auf der anderen Seite Flamingos – also alles, was der Tourist von der Camargue erwartet. Der Anleger soll im Sommer die Bootstouristen ins nicht weit entfernte Restaurant „Mas des Baumelles“ locken. Aber jetzt ist das Restaurant geschlossen und während unserer Zeit auf der Petit Rhône ist uns kein anderes Schiff begegnet. Wir können hier ungestört mitten in der Natur ruhig und sicher ein paar Tage liegen. Das berühmte Saintes Maries de la Mer ist 10 km entfernt, und wir machen uns mit den Fahrrädern auf den Weg. Auf einer kleinen asphaltierten Straße mit wenig Autoverkehr passieren wir große Feuchtgebiete mit uns unbekannten niedrigen Gewächsen, in flachen Wasserflächen spiegelt sich die tief stehende Sonne. Es gibt immer wieder Hinweise auf „Mas“, die Bezeichnung für Bauerngehöfte in der Camargue, und auf das, was angeboten wird. Das reicht von Honig, Reis und Früchten über Zimmer bis zu „Promenades à Cheval“. Die wilden Pferde der Camargue gibt es längst nicht mehr. Die Pferde stehen auf den Weiden und um diese Jahreszeit sieht man ihnen förmlich an: „Das größte Glück der Pferde ist der Reiter auf der Erde.“ Mit unserem alten Baguette erhöhen wir ihr Glück noch ein bisschen.
Zur Saison muss hier gewaltig was los sein, aber jetzt ist alles zu und wunderbar still. Im Sommer kann man vermutlich nur mit einem Ganzkörper-Moskitonetz unterwegs sein, selbst jetzt stürzen sich ein paar versprengte Exemplare freudig auf uns, und so kommt zum ersten Mal während unserer Tour das kanadische Mückenspray zum Einsatz. Kurz vor Saintes Maries de la Mer springen wir begeistert von den Rädern: Eine Gruppe schwarzer Stiere läuft durch einen flachen See, daneben stehen Flamingos. Als drei von ihnen ganz in unserer Nähe auffliegen, kennt die Begeisterung keine Grenzen mehr. Ihre Flügel mit den schwarzen und organgefarbenen Federn sind atemberaubend schön.
Saintes Maries de la Mer heißt so, weil nach einer Legende hier 40 n. Chr. drei Marien (Maria Magdalena, Maria Salomone, die Mutter vom Apostel Johannes und Maria Jacobäa, Schwester der Mutter Jesu) angekommen sind. Mit ihnen kam die schwarze Dienerin Sara, die jetzt als Schutzpatronin der Sinti verehrt wird. Tolle Berichte hatten wir früher gelesen, über die großen Prozessionen bei den Treffen der Sinti hier im Mai und im Oktober. Die Realität ist sehr ernüchternd. Die großen Prozessionen sollen heute in erster Linie Touristenspektakel sein. In der düsteren Kirche aus dem 10., 12. und 15. Jh. stehen diverse Reliquien und – an einer Wand hinter Glas – viele naive Bilder mit Dankessprüchen für wundersame Heilungen. In der Krypta unter dem Altarbereich steht die Heilige Sara, und ich hoffe, dass ich keine religiösen Gefühle verletzte, wenn ich sie als kleine Schaufensterpuppe bezeichne, der man hübsche Umhänge übergezogen hat.
Auch um diese Jahreszeit sind einige Sintifrauen aktiv, und ich bin immer ein dankbares Opfer. Eine von ihnen steckt mir eine Plakette mit der Heiligen Sara an die Jacke und bittet dann um Geld. Natürlich gebe ich ihr etwa, aber es ist nicht genug. „Die Plakette kostet 5 €“, sagt sie, und nimmt mir den Anstecker wieder ab. Mit den Worten: „Die bringt Glück“, drückt sie mir eine kleine Muschel in die Hand und lässt mich verdutzt stehen.
Es ist windstill und warm. Wir radeln zum menschenleeren Strand, genießen die Sonne und machen ein Picknick. Sanft plätschern kleine Wellen an den Strand, bei dem Wetter könnten wir sogar mit Moses aufs Mittelmeer. Aber wir erleben das Meer ein paar Tage später auch anders. Wind landeinwärts hat eine kräftige Welle aufgebaut, Schaumkronen leuchten in der Sonne, der Wind wirft die Gischt über den Strand. Über die Wellen freuen sich Surfer, die von großen Lenkschirmen gezogen über das Wasser gleiten, schweben und dazwischen gewaltige Sprünge wagen.
In den nächsten Tagen machen wir noch viele Radtouren. Flach geht die Sonne über den Horizont und taucht alles in ein faszinierendes Licht. Hier bekommt mit Sicherheit niemand eine Winterdepression. Auf den Wasserflächen gibt es jetzt nicht Tausende von Flamingos, sondern nur einige Dutzend, aber die haben wir für uns alleine. Die großen Parkplätze an den Wasserflächen sind leer, neben Flamingos sind Seidenreiher, Kuhreiher und Möwen die häufigsten Besucher.
Was fehlt noch? Ein Foto der berühmten „wilden“ schwarzen Stiere. Auf der Weide hinter unserem Anleger steht eine ganze Gruppe. In unseren roten Jacken springen wir am Zaun hin und her, wedeln mit den Armen und schreien. Die Stiere schauen auf und rasen los. Nein – nicht auf uns zu, von uns weg ans andere Ende der Wiese. Mit der Karriere als Torero wird’s wohl nichts.
Felix ist zum Luxustier geworden. Wegen seiner Blase darf er nur noch Diätfutter fressen, und das gibt’s beim Tierarzt. Im nächsten Dorf ist eine deutsche Tierärztin. Vor ihrer Praxistür springen ein paar Hunde freudig auf uns zu. Als ich sie streichele, werde ich von hinten angestupst, drehe mich um und stehe Auge in Auge mit dem größten Hund, den ich je gesehen habe. Sein Kopf ist so hoch wie mein Fahrradlenker und sein Versuch mit mir zu spielen, lässt mich fast umfallen. Da hilft nur die Flucht aufs Fahrrad.
Nicht nur mit Radtouren verbringen wir die Tage. Es gibt es auch wieder technische Probleme. Zweimal muss Per die Heizung auseinander nehmen, erst arbeitet sie gar nicht mehr, dann spuckt sie dicke Qualmwolken aus. Aber schließlich läuft sie einwandfrei und sorgt morgens und abends für gemütliche Wärme unter Deck. Daneben sorgt Per aber auch dafür, dass keine „Unterzuckerung“ eintritt. Selbst kandierte frische Ananas wird mit dunkler Kuvertüre überzogen, weiteres Konfekt entsteht.
Nach einer Woche ziehen wir weiter, d.h. wieder zurück, und zwar in den Canal du Rhône à Sète, nach St. Gilles. Wir wissen ja schon, dass der Hafen voll ist, reden aber trotzdem noch mal mit dem Hafenmeister. Der winkt ab. Nicht nur hier, auch in den nächsten Häfen Beaucaire und Galicien sind alle Liegeplätze belegt von denen, die ihre Schiffe über Winter im Süden liegen lassen. Auf unsere Bitte ruft er noch in Arles an, dort dürfen jedoch angeblich nur Schiffe bis zu 12 m Länge festmachen. Aber Wasser dürfen wir bunkern, und dann findet sich ein Plätzchen vor dem Hafen am Kanalufer neben einem Wohnschiff von 38 m Länge, auf dem ein Ehepaar aus der   Schweiz dauerhaft lebt. In St. Gilles gibt es einen Supermarkt, sogar Lidl und Aldi sind leicht mit dem Fahrrad zu erreichen, und die Tankstelle mit den Gasflaschen ist auch nicht weit. Also wird mal wieder alles aufgefüllt. Die Weinkooperative ist direkt am Hafen – wie praktisch. Einen trinkbaren Schoppenwein gibt es für 1,26 € pro Liter direkt aus dem Fass.
Dann beschäftigt sich Per noch mal mit dem Radio- und Fernsehempfang und plötzlich ist alles da. Deutschlandradio kommt genauso gut wie in Berlin und über den Laptop können wir fernsehen.
In unserem Salon ist es gemütlich, aber zur Bequemlichkeit fehlt noch was, und zwar ein Tischchen, auf dem der Laptop ständig stehen kann, das häufige Wegräumen ist lästig. Gleich am Hafen ist eine Tischlerei. Hier bestellen wir zwei nach Maß zugeschnittene kleine Bretter und sollen sie am folgenden Tag abholen. Als wir unser Portemonnaie zücken, will der Tischler kein Geld. „Es ist ein Geschenk“, sagt er, und wir können es kaum glauben.
Von St. Gilles aus fährt ein Bus für einen Euro nach Nimes. Also nichts wie hin. Hauptsehenswürdigkeit ist das Amphitheater. Es ist eines der am besten erhaltenen. 24.000 Menschen fanden darin Platz, und mit 133 x 101 m Größe und 21 m Höhe ist es ein gewaltiges Bauwerk. Nimes ist aber auch eine lebhafte junge Stadt mit einer großen Fußgängerzone und schönen Plätzen. Auf einem davon ist schon der Weihnachtsmarkt aufgebaut, übermorgen ist der erste Advent. Es gibt noch viel mehr zu sehen als wir heute schaffen, also werden wir auf jeden Fall noch mal wieder kommen.
Pünktlich zum ersten Advent beginnt es mir schlecht zu gehen. Übelkeit, Bauchkrämpfe – ich will nur noch ins Bett. Als es am Dienstag noch nicht besser ist, gehe ich zum Arzt, eine Darminfektion hat mich erwischt. Versorgt mit vielen Pillen warte ich jeden Tag darauf, dass es mir wieder gut geht, denn wir wollen eigentlich ablegen. Aber es dauert, und als ich mich nach einer Woche endlich besser fühle, fällt Per eine Plombe aus dem Zahn. Der Zahnarzt hat dann auch gleich noch das daneben liegende Inlay in der Hand, so dass die Abreise wieder um 10 Tage verschoben werden muss.
In St. Gilles haben wir jetzt alles besichtigt, was man besichtigen kann, am 22. Dezember hat Per den letzten Zahnarzttermin und am 23. wollen wir uns noch die „Lebende Krippe“ anschauen. Seit 20 Jahren werden Szenen um die Geburt Jesu bei einem Zug durch die Straßen und auf dem Platz vor der Kirche dargestellt. Im letzten Jahr kamen die Heiligen Drei König sogar auf echten Dromedaren. Am 24. soll es dann endgültig weiter gehen. Bis 31. müssen wir bis Béziers im Canal du Midi kommen, dann werden die Schleusen hinter uns bis zum Étang de Thau geschlossen, und zwar bis zum 19. Februar 2007.
Wir wünschen allen ein glückliches Weihnachtsfest und einen guten Start ins Neue Jahr.

 
© Per & Sylvia Pehle